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In einem Nu – Inversion des Nichts

KV Münsterland, Katalog "In einem Nu", Kerber Verlag 2008
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Erfassung, Beschreibung und Deutung der Realität ist weitgehend an Sprachkompetenz gebunden. Datenströme globaler digitaler Netzwerke ermöglichen verbale Kommunikation und einen direkten Informationsaustausch in Sekundenschnelle ohne zeitliches Limit. Elektronische Bildtechniken fotografischer Medien schaffen reproduzierbare und manipulierbare Abbilder der Welt. Auch ermöglichen bilddiagnostische Technologien aus Wissenschaft und Forschung immer tiefere Einblicke in die Zusammenhänge des Lebens. Das Maß an Objektivierbarkeit begründet die Plausibilität, Wahrheit und Logik des Wahrgenommenen. Dort, wo Sprache und das Faktische an Grenzen stoßen Erkenntnisse zu formulieren, beginnt ein autonomer, unbestimmter und vieldeutiger Wirklichkeitsgehalt, der insbesondere die kognitive und emotionale Ebene des Menschen anspricht. Diese imaginäre Welt des unterbewusst vorhandenen Wissens, der Einbindung in unterschiedliche Kulturen, der subjektiven Erinnerungen und Erfahrungen wird aus einer realen Situation heraus zufällig evoziert. „Datenträger“, hier zwischen Wahrgenommenem und Assoziiertem, ist die Sensibilität der Sinne.



Bestimmte Unbestimmtheit

Jochen Stenschkes Bilder, Zeichnungen und Objekte leiten ihre Bestimmung aus situativen Potenzialen ab, die jenseits sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten liegen, und weisen damit weit über die Tragfähigkeit von Worten hinaus, da der „Mangel an Bestimmtheit in einen Überschuss an Sinn umschlägt.“ Sie beziehen ihre Bestimmungskraft aus dem natürlichen Lebensrhythmus und der geistigen Innerlichkeit des Künstlers. Jochen Stenschkes Arbeiten beginnen spontan und immanent im Prozess des malerischen Aktes zu „leben“ und entwickeln sich aus sich selbst. „Inversion ist das eigentliche Zentrum des Bildes und seiner Theorie. Unbestimmtheit ist dafür unverzichtbar, denn sie schafft erst jene Spielräume und Potentialitäten, die das Faktische in die Lage versetzen, sich zu zeigen und etwas zu zeigen.“ Dies bedeutet, dass die unterschiedlichen Werkkomplexe Jochen Stenschkes Trägermedien und Substitute für kulturelle, philosophische und existenzielle Kontexte sind, die den Menschen betreffen. Sie sind auch als Gedankenspiegel des Künstlers und ikonografische Fixierung der Dynamik des Lebens zu begreifen.



Konsistente Kraftfelder

Die aktuellen Arbeiten präsentieren sich in hoher malerischer Qualität und Intensität. Eine Ursache liegt im Verzicht auf den früher konzeptuell eingesetzten Werkstoffes PVC. Die Malerei rückt in den Vordergrund, steht nun in direkter Korrespondenz zum Betrachter. Der Wegfall dieser Materialverbindung bewirkt ein „Entpacken“ der Tiefe des Raumes. Nichts verstellt den Blick auf das Bild und die Malerei, die sich in der Fläche ereignet. Die Ausdehnung des Bildraumes und dessen vielschichtige Staffelung in verschiedenen Ebenen wird einsehbar. In „Spin 1“, 2007 (vgl. Abb. S. 29) dringt der Blick des Betrachters Schicht um Schicht bis auf den Grund vor, den Bildträger aus Holz. Die organische Struktur des Holzes und seine haptische Präsenz ist konsistentes Kraftfeld für die Malerei und nicht bloßes Trägerobjekt. Lasierend aufgetragene Farbe nimmt die Holzmaserung als Gestaltungselement in sich auf. Gezeichnete Linien schwingen in sich infolge der lebendigen Oberfläche. Die naturgegebene Materialität ist als gestalterisches Element bildimmanent und beeinflusst den bewegten Rhythmus einer künstlerischen Sprache, die das Imaginäre und gleichzeitig das Reale in sich trägt. Im Malprozess entstehen zunächst große fließende Formen, wie in „Wasserzeichen 4“, 2008 (vgl. Abb. S. 87), die gleichsam ihre Ausdehnungsmöglichkeiten im Bildraum festlegen, sich in verschiedenen Ebenen ineinander verschränken und deren scheinbare Flüchtigkeit und Leichtigkeit viel Übung erfordern. Die von Jochen Stenschke bevorzugten Querformate unterstützen den Fließcharakter der bewegten Figurationen, die zumeist von links nach rechts das Bild durchlaufen. Kreise, Endlosschleifen oder Farbbänder sind als ikonische Realisation eines unendlichen Bewegungsmomentes in der Endlichkeit des statischen Bildes zu verstehen. Der Entwicklung starker, großer oder formatfüllender Formen folgen differenzierte Binnenformen, die sich in Schichten gemalt oder gezeichnet zu feinen Mikrostrukturen verweben. Die Bildkomposition entsteht folglich nicht vor, sondern während des Schaffensprozesses. Sie ist an die Handlungsästhetik des Künstlers gebunden und keiner Dingästhetik verpflichtet. Infolge der Loslösung von realen Kontexten während des Entstehungsprozesses der Bilder kann sich Bildsprache autonom zum Sinn- und Erkenntnis träger entwickeln.

In den neuen Arbeiten wendet sich Jochen Stenschke verstärkt der Farbe sowie deren Binnenstruktur zu, so dass deren pulsierende Dichte und Präsenz im Bildraum direkt nachvollziehbar werden. Diese Freiheit besitzt die Farbe bislang besonders in den Altöl- oder Papierarbeiten (vgl. Abb. „Gregorteilchen 1 (Moment des Übergangs)“, 2002, S. 67 und Abb. „Gesten 3“, 2002, S. 72). Farbe nimmt im Œuvre nun eine höhere Immanenz ein, entwickelt sich als Gegenwelt zur Linie oder steht im Wechselspiel mit dieser.

In der Arbeit „Wasserzeichen 2“, 2007 (vgl. Abb. S. 82) transportiert die Linie unterschiedliche Farbtöne und Spuren der Holzstrukturen des Bildträgers aus der Tiefe des Bildgrundes an die Oberfläche. Gleich einem Kommunikationsmedium setzen die zeichnerischen Elemente unterschiedliche Ebenen in Beziehung zueinander und verbinden diese über die gesamte Breite des Querformates. Die Linie ist zudem einem ständigen und schnellen Wandel im Bild unterworfen. Im Gegensatz dazu vermittelt Farbe den Habitus der Langsamkeit, Beständigkeit und Weichheit. Farbklänge und Kontraste legen, vergleichbar mit einer musikalischen Komposition, als Stimmungsträger den Affektraum des Bildes fest. Im Zusammenspiel mit gegebenen und gezielt gesetzten Strukturen, Formen und Linien bilden sie zudem einen bewegten, fließenden Rhythmus, der auch die zeitliche Dimension in den Arbeiten ausmacht.

Besonders die Altölarbeiten dokumentieren die Eigendynamik und den zeitlichen Aspekt des Fließens. In feinen Grauabstufungen durchdringt Farbe in kapillaren Fäden das Papier und umgibt eine Form gleich einer „Aura“ (vgl. Abbildungen S. 76). Räumliche und zeitliche Ausdehnung unterliegen den Vorgaben des Künstlers, der mit Hilfe von Wachskreide den Verlaufsprozess steuert.
Jochen Stenschke vollzieht den Fluss der Bewegung im Bild auch als Momente kinetischer Energie mit Hilfe von Modellen aus PVC und Kunststoff-Formteilen auf dreidimensionaler Ebene nach. Vergleichbares findet sich beispielsweise in den Arbeiten „Deux zones de l’espace: Action-réaction“, 1949 und „Des formes et des couleurs dans l’espace“, 1950 von Georges Vantongerloo.



Situative Kontexte

Die Fülle an Wahrnehmungsmöglichkeiten erfordert Beschränkung, um das Wesentliche zu erkennen. Jochen Stenschkes Werk schöpft seine Bestimmung aus einem Erinnerungsfundus. Gedankliches, Gesehenes oder Assoziiertes wird skizzenhaft oder modellhaft fixiert. Intuitives Sammeln unterliegt einer Auswahl, die sich an zunächst unbewussten visuellen Verknüpfungen zwischen Gesehenem und Erinnertem orientiert. Scheinbar fragmentarische Ausschnitte des Alltags, der natürlichen oder kulturellen realen Umwelt, fügen sich zum geistigen Kanon zusammen und werden im situativen Kontext zum gestalterischen Impuls. Jochen Stenschkes Beschäftigung mit ostasiatischen Kulturen und Weltanschauungen erklärt seine Fähigkeit, die imaginäre Kraft eines Augenblicks in malerische Energie umzuwandeln und das Wesentliche des Vergangenen im Gegenwärtigen zu sehen. Francois Jullien stellt in seinem Buch „Über die Wirksamkeit“ die strategischen Denkweisen der westlichen Welt im Hinblick auf die Verwirklichung von Zielen dem ostasiatischen Gedankengut gegenüber. „Das Potential ist also keine Angelegenheit von Kräften, die aufeinanderprallen und von denen jeder von uns seine eigenen hätte, sondern es ist das Potential der Situation. Durch dieses Situationspotential kommt man während des Ablaufes zum Erfolg, ohne sich anstrengen und ständig verstärken zu müssen. Es enthält die Möglichkeit, die es eröffnet, so wie das Gefälle das Wasser fließen lässt. Und man bedeutet es aus, so wie das Wasser es macht, indem man es versteht, mit ihm zu fließen.“

Die Bestimmung der zunächst unbestimmten situativen Potenziale in Verbindung mit Erkenntnissen hinsichtlich der menschlichen Existenz, kultureller Traditionen und geistesgeschichtlichen Prägungen begründen die Entwicklung einer individuellen Bildsprache. Motive, Linienstrukturen und spezifische Formen legen die Beziehung zwischen Signifikat und Signifikant fest. Ihnen ist jedoch eine „natürliche“ Gemeinsamkeit bzw. Ähnlichkeit zum Darzustellenden eigen, die fast universale Wiedererkennbarkeit erlaubt. Im Zusammenspiel – gleich Wörtern und Sätzen– bilden diese Icons die Syntax der Bilder, die alle Werkkomplexe durchzieht. Sie eröffnen auf assoziativer Ebene den Zugang zu Erinnerungen und sind Substitut für verborgene Sinnzusammenhänge. Die Lesbarkeit von kollektiven Bildern als ganzheitlich umfassende, allgemein ver ständliche Sprache begründet sich unter anderem aus einem Formen kanon, den der Mensch, unabhängig von seinem Kulturkreis, von unterschiedlichen Perspektiven des Lebens oder intellektuellen Prägungen generationsüberdauernd in sich trägt.

Im Bewusstsein und Vertrauen auf diese Urqualitäten entstehen die Bilder Jochen Stenschkes. Aus einem Impuls offenbaren sie sich als Inversion des Nichts in eine Idee des Natürlichen. Rudolf Arnheim beschreibt die Aspekte menschlicher Erkenntnis als untrennbare Einheit von visuellem Wahrnehmen und Denken. Erst im „anschaulichen Denken“ erschließen sich phänomenologische Zusammenhänge: „Vom Wesen der Dinge kann man nur reden, wenn es sich um ein organisiertes Ganzes handelt, in dem gewisse Eigenschaften Schlüsselstellungen innehaben, während andere zweitklassig oder zufällig sind. Abstraktionen, die sich auf die wahllose Entnahme von Einzeleigenschaften beschränken, würden uns nur wenig über solche Ganzheiten sagen können.“

Jochen Stenschkes Werkserien adaptieren Inhalte menschlichen Seins, fixieren das Leben und erwecken Sinnfülle durch eine universelle Bildsprache, die über die Tragfähigkeit von gesprochener oder geschriebener Sprache hinausweist. Erst durch Ausschaltung aller Setzungen erscheint die Welt – „In einem Nu“ – in ihren tatsächlichen Strukturen, enthält über die rein sinnliche Wahrnehmung hinaus einen Überschuss an absichtsvollem Sein.


Jutta Meyer zu Riemsloh, Kunstverein Münsterland, Coesfeld