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Spur und Indigo

Galerie Angelika Harthan 24.10.-20.12.2008


Eröffnungsrede von Otto Pannewitz, Galerie der Stadt Sindelfingen


Indigo und Spur bezeichnen treffend Jochen Stenschkes hier versammelte neue Arbeiten. Im Indikon steckt nicht nur der tiefe, letzte erkennbare Blauton vor dem Violett, sondern auch das Indische und damit ein zu unserem anderer Kulturkreis. Dieser schaut Ihnen auch entgegen, wenn Sie Jochen Stenschkes neuen, wohltuend schön gestalteten Katalog in die Hand nehmen und aufschlagen und Sie als erstes Bild eines des Inle-Sees in Myanmar sehen, dem ehemaligen Burma, der bekannt ist für seine darauf schwimmenden Dörfer und Gärten. Leben und Zeit einer anderen Kultur spiegeln sich hier in der steten Bewegung des Wassers. Und überall wo Lebewesen anwesend waren oder sind, hinterlassen sie Spuren vieler Art, gleich, wie ein sehr kleiner Anteil eines Stoffes seine Spur in einer Gesamtmenge hinterlassen kann. Archäologen, Historiker, Chemiker, Physiker und Philosophen wissen davon zu reden. Und nicht zuletzt auch die Künstler.

Jochen Stenschkes Werk hat seine Wurzeln in einer eher dem Figurativen verpflichteten Malerei wie Zeichnung der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts. Sie ist geprägt von einem expressiv wilden, mitunter zur Abstraktion neigenden Ansatz. Leinwandbild, aber auch das Tafelbild, Collageelemente, Zeichnungen und Objekte stehen für seine künstlerischen Anfänge. Insbesondere aber das Tafelbild, in dem Holz Bild- und Materialträger ist, ist bis heute neben der Zeichnung ein wesentliches Element des künstlerischen Schaffens von Jochen Stenschke.

Anfänglich tragen die Holzplatten der Tafelbilder neben der Grundierung Salzschichten, dann transparentes PVC-Material, das sich wie eine Haut über die Tafeln legt und dem Maler und Zeichner eine Vielschichtigkeit der Bildfindung durch Malen und Bezeichnen, per Pinselschlag, Farbrollen, Stifte und Kreiden, aber auch per Stecheisen erlaubt. So entstehen "Tafelbilder" von meist dreidimensionalen Strukturen im Sinne eines offenen Bildwerkes. Solche Werke konnten Sie vor 4 Jahren in diesen Räumen sehen.

In jenen Tafelbildern, aber auch in den immer parallel gefertigten Zeichnungen, herrscht ein eher narrativer Zeichen- und Figurationenkanon, der das Bildfeld geradezu hermetisch besetzt. In der weiteren Entwicklung findet dann aber eine Konzentration statt, die mit einer Reduktion des Erzählerischen wie auch des Materialen einhergeht. Das dominante PVC Material weicht einem leichten, wolkenhaft gefaserten Japanpapier, wie Sie es hier in dem Werk mit dem Titel „Glück“ sehen können, das die Einladungskarte zu dieser Ausstellung ziert. Diese Veränderung eröffnet Jochen Stenschke andere Einsatzmöglichkeiten vor allem der zeichnerischen Mittel. Das auf der Holztafel aufgelegte Japanpapier lässt jedes Zeichenmaterial zu, die vordem plastischen Möglichkeiten der Tafelbilder mit PVC weichen der malerischen und zeichnerischen Vielfalt, die die grundierte Holztafel, das Tafelbild in seiner Urform sozusagen, gestattet und die mit der Kaschierung von Japanpapier eine ebenso unerschöpfliche Mehrschichtigkeit der Bildebenen garantiert.

Jochen Stenschke malt und zeichnet auf der Holztafel, überdeckt mitunter diese Bildfindungen mit Japanpapier, auf dem weitere Bildformen entstehen und sich in der Überlagerung mit dem darunter liegenden Bild verbinden. Im „Glück“ schafft der Bleistift auf dem Japanpapier eine im Fluss scheinende Ansammlung von Gleichen oder Ähnlichen auf eine aufnehmende Mitte hin, auf der transparente, aber auch solche, in sattem Kohlestift vorgetragene Inseln schwimmen. Nach rechts und links ist dieses Fließen unendlich denkbar, während unten und oben eine mehr oder weniger zarte Begrenzung das Feld unserer Betrachtung überlagert und rahmt. Das vom Künstler offensichtlich bevorzugte Querformat seiner Tafelbilder, selbst wenn sie sich zum Quadrat verbinden, verstärkt absichtsvoll das Fließen von Formen, Linien, Zeichnung und Farbe.

Von dieser meditativen Zartheit des Vortrags in dieser Arbeit löst sich der Künstler in seinen jüngsten Werken, die hier mit Indigo und Spur hervortreten. Und wieder verändert sich das Tafelbild, das Japanpapier verschwindet, die grundierte oder rohe Holztafel wird zum alleinigen Bildträger, gar zum mitwirkenden Gestaltungselement.

Fulminant tritt uns die mit einem großen quastigen Pinsel in samtigem Blau direkt aufs Holz gesetzte Endlosschleife entgegen, die sich in der durch den Pinsel mit ausgeprägter Binnenstruktur versehenen Farbe zu einem dreidimensionalen Gebilde schichtet, zwischen kräftigen Kreisformen, überlagert von weißen Wellenlinien. Mit ihr tritt, wie auch in den anderen hier gezeigten Arbeiten, eine neue Betonung der Farbmaterialität ins Werk von Jochen Stenschke, die wir bislang vor allem in den Altölarbeiten auf Papier in seinem Werk gefunden haben. Das in jenen ursprüngliche und unendliche Fließen der Formensprache, was letztlich ein unbegrenztes Fließen der Zeit thematisiert und zum Ausdruck bringt, wird hier nun in der unendlichen Bewegung von Schleife und Kreisen auf eine zwar material endliche Bildfläche transportiert, die ihrerseits aber ebenso unendlich fortdenkbar ist.

Umso mehr in den Werken wie „Wasserzeichen“, oder „Magazin“ in denen der Farb-Strom des Indigo-Quasten-Pinsels mäandernd durch die Horizontale zieht, diverse Dinge mit sich führt, wie etwa die gehirnähnlichen Objekte, die wiederum den Farbton des am oberen und unteren Rand mitschwingenden Holzes aufgreifen, oder von im schnellen steten Wandel begriffenen Linien des Zeichenstiftes überlagert werden. Ab und an taucht ein Boot aus Farbe hervor.

So what!? Feststellung oder Frage in den gleichnamigen Werken, in denen der schon bekannte, diesmal in sich mäandernde Indigo-Fluss von fließenden Linien eines weißen Farbstiftes durchzogen wird, der auf dem divers strukturierten Indigo einen unterschiedlichen Abrieb hinterlässt. Dieser evoziert seinerseits in seiner Diversität eine dreidimensionale Wellenbewegung mit Tälern und Kämmen. So what!? Aus wie vielen und welchen Teilchen besteht der Fluss, wie viele und welche Teilchen hat die Zeit, wo beginnen Fließen und Zeit, wo enden sie?

Zeitströme, Zeitenwende, Hin und Her, In einem Nu, Fluss, Reise, Flow, Gesten, Vivace (lebhaft), Wasserzeichen, Pool. All die Titel der Werke der vergangenen Jahre umschreiben Jochen Stenschkes Interesse an den Dimensionen der Zeit, die sich in den Dimensionen unseres Lebens, unseres Wissens in den verschiedenen Kulturen und Sprachen, gerade auch der der Bilder manifestiert.

Und so weist Jochen Stenschkes Werk ihn bis heute, auch wieder in diesen hier gezeigten Arbeiten, als einen Künstler aus, dessen Bilder und Objekte sich in formaler wie inhaltlicher Sicht zu einem komplexen System verknüpfen, in dem Malerei und Zeichnung vielfältigste Assoziationsbezüge offen legen. Auch wenn man auf den ersten Blick den Eindruck eines werkimmanenten Systems gewinnen könnte, ist Jochen Stenschkes Vorgehensweise aber keineswegs systematisch. Seine Werke entstehen nicht aus einem vorgefassten Plan, sondern aus dem eigentlichen Tun, dem Akt des Malens und des Zeichnens heraus. Dieses Tun aber unterliegt der künstlerischen Erfahrung und Durchdringung von Welt, fokussiert auf Jochen Stenschkes physischen wie geistigen Erfahrungshorizont. Dieser birgt sein Grundrepertoire, aus dem er kontinuierlich sein Werk entwickelt.

Zu diesem Grundrepertoire gehört zumindest bis heute unabdingbar das Tafelbild in seinem bewussten Traditionsverweis auf die Tafelbildmalerei auf Holz. Hinzu kommt das Papier der Zeichnungen. Zu diesem Grundrepertoire gehört der Mensch als Zentrum der künstlerischen Auseinandersetzung, der anfänglich bildhaft ganz, dann immer mehr fragmentiert oder nur noch symbolhaft auftaucht, immer aber als Zeichen- und Spursetzer gegenwärtig ist. Zu diesem Grundrepertoire gehören Existentielles, Kulturprägendes, Geistiges, Bewusstes und Unbewusstes als inhaltliche Dimensionen. Zu diesem Grundrepertoire gehören Zeichnen, Bemalen und Schichten als Handlungsakt. Und zu diesem Grundrepertoire gehören reduzierte, fast archaische Zeichen und Symbole als Ausdrucksformen einer vielsagenden Sprachlichkeit.

Diese Sprachlichkeit ist wie Sprache an sich wandelbar und erweiterungsfähig, im Eigentlichen vielfältig unbegrenzt. Sie hat sich bei Jochen Stenschke über die Jahre bis heute stetig erweitert, in dem Maß, in dem sich der Erfahrungshorizont des Künstlers vergrößert.

Sie strukturiert ein Bildfeld und ist existentieller Teil desselben, dem Malerei und Zeichnung eine Weite und Tiefe zuspielen, die Einblick und Ausblick zugleich ergeben.

Jochen Stenschkes Befassung mit philosophischen, mythischen, ganzheitlichen Aspekten der menschlichen Existenz, lenkt seinen Blick in und auf Jahrtausende überdauernde kulturelle Phänomene unterschiedlicher Lebenserfahrung und macht sich ein Bild davon. Seinem Eindruck und daraus entwickelten Ausdruck in fließenden Linien, sogwirkenden Kreisen, schutzbietenden Traubenbildungen, Blütenähnlichem, Organischem, Konstruktivem, Leichtem und Dichtem, Verhaltenem und Lebhaftem in Form und Farbe stehen Sie in dieser Ausstellung gegenüber. Und Sie werden darin Teil einer Suche - in einem übertragenen Sinn Spurensuche - nach dem unsere menschliche Existenz bestimmenden und überragenden Phänomen der Zeit, die Jochen Stenschke als Fließende begreift in einem Dahinplätschern von Unendlichkeit.

In diesem Fließenden der Zeit bewegt sich die menschliche Existenz physisch wie geistig, ist mit ihrer inneren wie äußeren Energie selbst im Fluss. Für den Künstler steht dieser Mensch als Teil eines Zeitflusses ohne Anfang und Ende im Zentrum seiner künstlerischen Befassung mit Raum und Zeit.

Aus dem jetzigen Leben heraus verbindet Jochen Stenschke die aus unterschiedlichen kulturellen Prägungen erwachsenen Leistungen an geistigen und kulturellen Setzungen des Homo Sapiens.

Generationenübergreifend, von Zeit zu Zeit weitergegeben, spürt der Künstler jenen kollektiven Linien nach, die im großen Fluss der Zeit als das Konstante, als spürbar potenzierte Energie erhalten geblieben sind.

Im Fluss der Zeit überdauert nur das Zeitlose, das in allen Kulturen zu finden ist. Mit seinen Werken ermöglicht der Künstler schließlich auch eine Besinnung auf die grundlegenden Dinge der zeitbedingt beschränkten menschlichen Existenz, die im vermeintlich grenzenlosen Heute unterzugehen drohen: nämlich das Sein als ein konzentriertes Dasein zu begreifen, das, im besten Falle, der Erkenntnis zustrebt.

Ich will Ihnen nun nicht den sinnlosen Rat geben, sich Zeit für Jochen Stenschkes Kunst zu nehmen, empfehle Ihnen lediglich, sich im Fließen der Zeit auf Spurensuche ins Indigo zu begeben.


Otto Pannewitz, 24. Oktober 2008, Galerie Angelika Harthan