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Jochen Stenschke: Kopf oder Zahl. Bilder und Zeichung

Kunstverein Kreis Gütersloh e.V., 16.3. – 27.4.2014


Gespräch am 10. Januar 2014 im Kunstverein Rotenburg/Wümme in der Ausstellung „Trio für Treppe und Turm“


Ralf Rummel-Suhrcke (RuS) und Jochen Stenschke (JS)


JS: Die Arbeiten sind hier für die Turmetage zusammen gedacht worden, aber nicht allein für den Turm entstanden, sie wurden entwickelt im letzten Sommer 2013 im Mülheimer Atelier.
Der Titel „Kopf oder Zahl“ steht für die nächste Ausstellung im Kunstverein Gütersloh jetzt im März 2014, diese Arbeit hier ist die Titel gebende für die Ausstellung. Und diese kleinen Arbeiten, genannt „Briefe 1 bis 3“ sind parallel entstanden, die großen Arbeiten messen 80 cm in der Höhe und 200 cm in der Länge.
RuS: Sie sind also gleich groß?
JS: Ja, die kleinen „Briefe“ messen 30 x 50 cm und sind auch alle gleichgroß.
RuS: Welches ist die jüngste Arbeit?
JS: „Kopf oder Zahl“. Also die Hängung, insbesondere nach der Frage der Höhe, gehe ich gerne im Raum in verschiedene Ebenen, so dass ich den Raum bespiele, in dem die Arbeiten aufeinander reagieren. So gibt es nicht nur die traditionelle Sichthöhe, sondern es setzt eine gewisse „Klang-Modulation“ ein. Das gilt sowohl formal in den Tafeln, als auch farblich in den Bezügen der Tafeln zu einander. Wenn du zum Beispiel hier stehst, ausschließlich aus diesem Blickwinkel, siehst du dieses leuchtende Grün an der Bildseite, wenn du auf diese Tafel „Blattschuss“ schaust, wiederholt sich das.
RuS: Es ist etwas Harmonisches, eine gewisse Harmonie, erzeugt im Raum. Eigentlich ist es auch für den Betrachter durchaus eine Herausforderung, wo er hinschauen muss?
JS: Ja.
RuS: Selbst durch die Raumhöhe, man bekommt das nicht, wird nicht bedient, sondern man muss sich bewegen. Diesem Gedanken folgt das, man muss sich eigentlich im Kreis bewegen, für einen Rundumblick.
JS: Nun, Harmonie in der Definition als „Teile von Gegensätzlichem“, die „aufeinander zugehen würden“, „sich bedingen“, in dem Sinne schon. Wichtiger ist aber das Bewegungsmoment in meinen Arbeiten. Das drückt sich in der großen Form, also dem Raumeindruck im Gesamten aus, so wie du sagst, dass man sich selbst bewegt, aber es ist auch den Bildern immanent: ... wie zum Beispiel hier: siehst du diese Wellen und Interferenzen in dem Bild „Blattschuss“, die dann herüber ziehen in diese Pfeilrichtung und gleichzeitig gibt es diese große Druckwellenbewegung von dem Schuss, wenn man so will. Und so ist die physikalische Darstellung in der horizontalen Ebene nachgezeichnet, eine wellenförmige Ausdehnung, wie wenn man einen Stein ins Wasser werfen würde. Dabei erlebt man auch gleichzeitig, wie es farblich in die Tiefe geht. Das heißt, die Bilder fangen an in der Tiefen- oder Raumebene sich zu bewegen oder zu schwingen!
Dieses Spiel dieser kleinen dunklen, typografisch aufgefassten Rosetten, ist dann hier ganz vorne,
ja, …wie kann man das bezeichnen, wenn man auf dem Jahrmarkt mit dem Bogen schießt und einen „Blattschuss“ hat.
RuS: Das geht aber nur im Großformat, oder? Diese Gegenläufigkeit von der Bewegung oder der Dynamik kann man nur mit einem gewissen Format in den „Klang“ bringen. Wenn ich mir dieses Bild „Blattschuss“ angucke, dann sind es die Bildräume, die das in gewissem Maße zulassen. Kleinformate sind intimer, da gibt es solche Andeutungen nicht.
JS: Nehmen wir hier „Brief 1“. Es gibt diese zwei Ebenen hier, zuerst das unterliegende Altrosa und dann kommt darüber dieses Magenta Pink und hier diese Spitze, die in die Fläche rein kragt, die bricht natürlich die Ebenen. Und in der Gegenbewegung entsteht diese Dualität und selbst der gelbe Farbstiftstrich, der beide Ebenen durchzieht, schafft dann eigentlich wieder diesen gegenläufigen Raum, nur hier reduzierter. Also, in dieser minimalen Übersicht sehe ich es da genauso.
In dem Bild „Brief 3“ dort oben ist es ein bisschen anders, du siehst, die Holzmaserung durchläuft das Bild. Die farbige Spirale mit den Farbstiften ist direkt aufs Holz aufgetragen und du spürst die Holzmaserung. Ich reagiere wiederum auf die Maserung, in dem ich sie aufnehme in den Rotfächerungen, rhythmisiere und so entsteht auch ein schwingender Raum.
Und hinzu kommt das aufgewalzte Altrosa-Dreieck und bricht die Ebene der Rotfächerung wieder. Auch in den kleinen Tafeln funktionieren die Ebenen so, dass sie auch in Schwingungen geraten.
RuS: Die Holzmaserung ist eigentlich überall noch vorhanden und sichtbar.
JS: Ja.
RuS: In den größeren Bildern, selbst bei diesem hier: „Kopf oder Zahl“, sieht man auf der rechten Bildhälfte, wie es durchschimmert, das heisst, du arbeitest bewusst mit dem Material Holz, welches einen leicht klassischen Eindruck hervorruft, weil es eine Tiefe hat, im Gegensatz zur Leinwand. Zum Anderen bietet es dir eine Struktur, auf die du reagieren kannst mit deinen Bildern.
JS: Ich meine, eine Leinwand hätte auch eine Struktur. Aber das wichtigste für mich, warum ich Holz nehme, ist, weil ich auf dem Bildträger eben auch zeichnen kann, und die nötige Festigkeit für Farbe und Zeichnung lässt mir eine Leinwand nicht zu. Der Farbauftrag hier ist mit einer intensiven Offset-farbe mit einer Druckerwalze aufgetragen und deshalb auch diese Monochromie, das kommt von meinen früheren PVC-Arbeiten, dass ich Flächen total zu walze und das ist auf einer schwingenden Leinwand erstmal gar nicht zu machen, das zum einen. Zum anderen ist der Bildträger, also dieser Holzbildträger, in seiner Objekthaftigkeit mir sehr wichtig und so ist der gezeichnete Strich bei dem Widerstand des Materials auch nur möglich.
RuS: Da ist stellenweise eine sehr pastellene Farbe, hier links in dem Bild „Kopf oder Zahl“, hier drüben auch, bei diesen beiden ersten Briefen. Hast du das neu entdeckt, als Grundstimmung, Grundton oder ist das etwas, was sich fortsetzt in den letzten Jahren? Es vermittelt eine gewisse Anmutung, das Pastellene macht es grundlegend sehr weich. Einerseits der Bildträger Holz, man könnte drauf klopfen, und auf der anderen Seite bekommt es dadurch eine gewisse Sphäre, etwas Wolkiges oder Weiches.
JS: Weiches, ja. Das mag sein, dass die..., ich überlege gerade, wie die anderen Arbeiten…, die sind in dieser Kompaktheit so wie hier eigentlich nicht. Aber du hast recht, die Farbigkeit verwandelt das Material, es gibt wieder so was, ich will fast sagen etwas Gummihaftes.
Die Weichheit, wie du sagst, interpretiere ich als eine Art Dehnung, die da auch arbeitet. Das ist wahr. Die Setzung der Farben, die ist seit letzten Sommer bei diesen Tafeln so entstanden. Wobei diese Palette der Indigofarben, das kommt sehr häufig in den früheren „Wasserzeichen“-Bildern vor, wie die verschiedenen Rotebenen, die finden sich auch immer wieder. Es sind auch Systeme: das Indigo als grenzwertige Farbe, bevor es physikalisch ins UV-Licht geht – also als nicht mehr sichtbares Licht –ist das Indigo ja kurz vor dem, das noch wahrnehmbar ist und Rot, oder auch abgeschwächte Rot-
töne immer wieder, haben im Farbkreis eine würdige Präsenz. Beide Farben sind am Ende des sicht-
baren Farbspektrums und damit wieder essentiell. Grün, helles Blau oder die Schnelligkeit und Weite von Gelb sind mir dagegen sehr flüchtig, dagegen bietet das Rot einen Block oder Präsenz. Und das finde ich sehr gut. Gleichzeitig ist Rot auch immer ein Wärmefeld.
RuS: Es wird aber trotzdem sparsam eingesetzt. Bei dem dritten Brief sind es lediglich Farbstifte?
JS: Es sind Farbstifte.
RuS: Wie gestrichelt. Es ist nicht ein Auftragen, da gibt es Andeutungen hier bei diesem zweiten Brief, mit diesem roten Halbkreis, der ist sehr kräftig, und hier bei dem Blattschuss? Da gehört das Rot auch zum Umfeld, es könnten Schallwellen sein, Projektile, wo gewissermaßen etwas beiseite gedrängt wird, wo sich in der Flugbahn etwas abzeichnet, was man sonst nicht sieht. Durch das Rot wird es hier natürlich sehr dynamisch gemacht, trotzdem ist es ein relativ sparsamer Einsatz, bezogen auf die Signalhaftigkeit.
JS: Ja, aber durch die Wiederholung und durch diese Wellenbewegung hat es schon eine vibrierende Massigkeit.
RuS: Ja.
JS: Und dann folgt gegenläufig diese Blau-Palette im Kontrast, die Präsenz des sich ausdehnenden Srömungsverhaltens von den violett-blau-Ovalen. Der Duktus der Graphitzeichnungen, was hier so schillert, unterstützt linear die Farbebenen.
RuS: Das heißt also, du arbeitest mit sehr unterschiedlichen Farbmedien. Mit Stiften, mit Öl ...
JS: Teilweise mit Öl, teilweise Lackfarben, teilweise Farbstifte usw... – also jedes Mittel ist recht.
RuS: Wie kommt es zu solchen Entscheidungen, welche Farbmedien du nutzt?
JS: Das Beginnen, der Beginn bei der leeren Holztafel ist so, wie wenn ich einen Ball los werfe und hinterher laufe, ihn einfange und dann kommt das Nächste. Ich arbeite aus einem situativen Potential heraus, wie ich einen ersten Ansatz oder Angriff starte. Ich entscheide mich für eine bestimmte Fläche oder ein bestimmtes Liniengebilde. Bei „Blattschuss“ fing ich mit dem Graphit an, diese ovalen Wellenbewegungen zu vollziehen – und dann ist eine erste Setzung da, auf die ich reagiere. Also es gibt in dem Sinne ganz wenig Korrekturen, sondern immer wieder ist der Ball im Spiel, wird wieder aufgenommen und ich erfinde ad hoc ein Medium oder werde wieder intuitiv auf diese Situation reagieren. Das meine ich mit dem situativen Potential. Es gibt nicht einen Schritt vor und drei zurück – oder so. Sondern das, was ist, ist da! Und das hat auch in dem Moment das Zwingende. Und ich reagiere dann auf dieses Moment mit dem nächsten Schritt. Und der befindet sich in der Korrelation zu dem Schritt davor – direkt – das heißt, das kann die Farbe sein, das kann im nächsten Moment der Stift sein, eine Tusche sein, etwas das pastos ist, oder so. Wenn ich eine Holzmaserung sehe, dann sehe ich sie und dann reagiere ich darauf, wie im Brief 3.
RuS: Das lässt sich gut heraus lesen, dieser Aufbau, den du beschreibst, du entscheidest dich für eine Grundstimmung und eine Bildaufteilung durch Farbflächen und dann gehst du weiter mit Elementen, die auch in der Farbe eine Eigenschaft bekommen. Was mir auffällt ist, dass du sehr respektvoll vorgehst. Ich sehe nicht, dass du dich selbst korrigierst, obwohl es auch Bilder gibt, wo übermalt wird.
JS: Ja, genau das meine ich.
RuS: Das passiert und wird sehr krass verändert. Das ist ja in deinen Bildern nicht der Fall. Also in der Hinsicht auch sehr harmonisch, weil sie sich voller Respekt gewissermaßen entwickeln, wenn man das so sagen kann, weil du die Setzung erstmal so akzeptierst.
JS: Richtig.
RuS: Du folgst dir gewissermaßen in dem, was du im Vorhinein gemacht hast. Am ehesten ist beim „Blattschuss“ zu bemerken, dass es solche Überlappungen gibt, Ölflecken die drüber liegen. Die greifen dann auch die Struktur von den Kreisen an. Aber trotzdem würde ich sagen, dass du das sehr respektvoll voran bringst, ohne dich selbst wieder zurückzunehmen und zu korrigieren.
JS: Das meine ich. Dass diese Präsenz, sozusagen wie „Kimme und Korn“ bei einem Schussapparat, sich visiert, dass ich die Mittel übereinander lege und dort ein Ziel habe. Und, wenn man so wollte, in der Konzentration „Bogen, Pfeil und Ziel“ in mir ist, und ich das so verinnerliche und los gehe. Also ich trainiere eigentlich diese Bewegungsebenen von mir ausgehend bis da, was mein Gegenüber ist. Und das versuche ich, auf Deckung zu bringen.
Aber – und das hat eben dieses Zwingende auch – dass ich mir diese Setzung gebe und auch dieses Moment von „Achtung“. Und deshalb auch diese Entscheidung in dem Titel „Kopf oder Zahl“, dass ich sage: so ist es jetzt und so muss es jetzt final auch sein. Dann kommt aber noch eine weitere Ebene hinzu: ich nenne das mal „Störung des Systems“.
RuS: Das sind kleine Hinzufügungen, die das Ganze nicht zerstören, aber eine Ahnung geben, dass da doch noch mal eine Korrekturvorstellung oder irgendwas zu verdichten ist, oder du noch weiter überlegen willst. Das sind aber sehr feine Elemente. Der Grundeindruck bleibt die Harmonie, von der wir jetzt sprechen.
JS: Diese Konsequenz.
RuS: Ja, oder so.
JS: Diese Konsequenz von diesem Raum ist: das Ziel und die Aktion, die sich in dieser Ebene mit dem „Zielen“, mit der Tat, in dieser Bedeutungsebene von „Kimme und Korn“ (also das Ziel nehmen), auf
Deckung zu bringen. Also, anders gesagt, mit dem Wort „Harmonie“ habe ich ein bisschen Probleme, es geht eigentlich um so eine Verdichtung von diesem Innen und Außen. Wobei ich mir darüber im Klaren bin, dass es darin keine Vollkommenheit gibt. Es gibt dann immer wieder Momente, wo das stört. Und dieses Spiel lasse ich auch zu. Und das muss ich auch zulassen, sonst hat es so eine postulierte Endlichkeit. Hier kommt auch eine Portion Humor mit ins Spiel, der dann sagt „nein, das bleibt auch schön offen“.
Wie hier in der Tafel „Blattschuss“ mit den fast floralen Elementen, die das „Blatt“, sprich Herz sein könnten, sind ja dann genau diese Übermalungen, diese Störungen. Also den Ball, den ich dann vor spiele, der geht auch mal in die Wiese oder landet mal doch im Wasser und so muss ich ihn raus-
fischen … , und das meine ich mit „Störungen des Systems“.
RuS: Ja, gut. Ich würde auf dem Begriff der Harmonie nicht beharren, aber ich würde an der Stelle gerne fragen, ob das etwas Biografisches ist? Ein biografisches Merkmal, woraus du schöpfst, wenn du sagst, du hast Kimme und Korn, das Ziel, du entwickelst deine Bildräume, deine Bildsprache, ohne dass du zwei Schritte zurück und wieder weiter gehst, sondern du gehst voran. Man könnte ja auch, auf die Gefahr, dass das jetzt provozierend klingt, davon sprechen, dass Bedenken oder eine gewisse Angst vorhanden sind, noch mal zurück und dann weiter zu gehen? Ich finde bei vielen Bildern ist eine Art von Erschrecken zu spüren: Das war es jetzt nicht, ich muss da noch mal drauf gehen und irgendetwas verändern. Einerseits arbeitest du zielgerichtet, so wie du es beschreibst, und dies beschreibt dich ja auch als Person, auf der anderen Seite steht eine Behutsamkeit.
JS: Ja, das ist sehr gut zu fragen. Wenn ich dir Bilder zeigen würde, die ich mit 20 oder 30 Jahren gemalt habe, dann siehst du, dass ich genau das gemacht habe. Also ich habe permanent drauf gemalt, abgewaschen, drüber gelegt, collagiert, geklebt und mit Farbe gerotzt in ganz vielen Schichten. Und ich bin eigentlich dadurch – insofern ist es biografisch, dass ich die Prozesse der Malerei aus den 80er und 90er Jahren alle sozusagen noch mal inhaliert, durchwandert und durchlaufen habe. Und genau diesen Prozess von Malerei will ich nicht mehr oder brauche ich nicht mehr. Die Tatsache, dass ich mich heute noch mit dem Bild und Tafelbild beschäftige, beruht auf dem Gedanken, dass, trotz dem in der Malerei mehr oder weniger alles erfunden ist, ich sie gar nicht zwingend als Malerei verstehen werde, sondern mehr als Aktionen, als farbige Zeichnung, die diesen Prozess der Bewegung, des „tache“ (franz. Farbfleck) des Auftrages, mich immer wieder neu motiviert. Mir ist es egal, wie das heißt, sie können sich auch „mehrfarbige Zeichnungen auf Holz“ nennen. Mir geht es um diesen Prozess und den habe ich biografisch abgearbeitet und dieses, wie du sagst „Behutsame“, ist eine Bewegung oder Besetzung, diese Schritte mit Bedacht ebenso vorzutragen.
Und ein weiterer Aspekt, der mir, sagen wir mal, da hilfreich war, ist natürlich die Auseinandersetzung mit verschiedenen asiatischen Philosophien und Reisen auch in diese Länder, wo ich dort eine ganz andere Vielsprachigkeit und Wirklichkeit studiere und aus diesem Fundus für mich und für meine Bilderwelt übersetze – und das ist das Ergebnis dessen.
RuS: Lässt sich das näher beschreiben? Reiseerlebnisse hat jeder, du hast ja auch immer wieder
Kulturbegegnungen gehabt?
JS: Ja.
RuS: Was hat dich da berührt? Die Erfahrung eines Zusammentreffens mit anderen Ausdruckswelten, anderen Kulturen, anderen Ländern – hat sie dazu geführt, dass sich in deinen Bildräumen eigentlich etwas verlangsamt, reduziert?
JS: Eine Form von Dehnung. Eine Dehnung des Bewusstseins, des Raumes. Also, wenn ich von diesen Zie-
len ausgehe und von dem Bogen und dem Pfeil, wenn man so will, dann habe ich darin eine Dimension und wenn ich diese Dimension abgreife, von dem einen, zu dem mittleren Punkt – und sei es nur eine Armlänge – zu dem Endpunkt, dann liegt dazwischen ein Weg. Und innerhalb dieses Weges brauche ich den Atem und dann brauche ich diese Dehnung. Und wenn ich diese Dehnung aufzeige oder spüre oder auch trainiere, dann habe ich eine deutliche Vorstellung von diesen einzelnen Elementen. Von dem Pfeil, von dem Bogen und von dem Ziel als diese Dehnung und, wenn ich sie konzentriert betrachte und aufeinander beziehe, dann entsteht dieser gedehnte Raum! Und das interessiert mich als Phänomen, als Phänomenologisches. Also in unserer Kultur ist mir Edward Husserl nah, ja, dass ich aus der natürlichen Wahrnehmung, die ich habe, heraus trete im Epoché und in der phänomenologischen Wahrnehmung weiterkomme. Deshalb, das was da ist, die Bäume, wie die Wiese ihr Grün versprüht und der Himmel Blau etc., das noch sehe, natürlich, oder das als bewussten Raum wahrnehme. Aber es gibt einen inneren Raum oder einen anderen Raum, der diese äußere Welt transzendiert. Und das sind die situativen Potentiale, auf die ich mich beziehe und darin diesen Ball spiele oder diesen Stein ins Wasser werfe und daraus wieder ein Korrelat finde zu meinem Atem. Das ist das Wichtige, so sind die Farben oder die Stifte oder das Holz eigentlich nur die „Transmitter“ für diese Begegnung.
RuS: Du sprichst von inneren Räumen, die auf Grund dieser Erfahrung und Wahrnehmung des Vergleiches entstehen? Ist man da irgendwann satt? Hast du genug Eindrücke, könntest du sagen, ab jetzt gehst du nach Innen? Oder wie ist das Verhältnis von Innen und Außen? Du sprichst von blühenden Wiesen. Oder würdest du sagen, im Moment lebst du und leben deine Bilder und lebst du in deinen Bildern tatsächlich in dieser Umkehrung, in dieser Innerlichkeit. Es ist vielleicht nicht ganz richtig, du sprichst von inneren Räumen. Brauchst du nach wie vor Neues? Das hat ja sicherlich etwas mit Biografie zu tun. Früher hast du deine Bildwelten mächtig aufgebaut, irritiert, zerstört, verändert, entwickelt – sehr expressiv, es klingt so, dass das nicht mehr der Fall ist, man sieht es ja. Könntest du begründen, wo du da gerade bist? Es geht um verschiedene Orte, die konkret bezeichnet werden in solchen Bildern.
JS: Sagen wir mal so, die grüne Wiese interessiert mich nicht. Also das guck ich an und das ist Außen. Was mich interessiert, ist weiter das Hervortasten, wie weit diese Spannung oder diese Dehnung funktioniert. Und damit die Frage nach Endlichkeit und Unendlichkeit gefragt wird. Es wird an dem Punkt sehr existentiell. Die äußere Welt plätschert Tag für Tag so vor sich hin, Sommer wie Winter und das ist ein permanenter Kreislauf. In dem ich mich bewege, das ist immer in meinen Arbeiten als philo-sophische oder phänomenologische Struktur in mir gezeitigt. Ich hab immer gesagt, das, was ich mache, mache ich richtig, einmal, und das will ich auskosten, hier und jetzt. Und dieses Phänomen der Zeit, also nicht des Chronos, des Kairos, als Elemente, sondern dessen, was den bildhaften Raum und Zeitraum ausmacht, die Dauer. Ich kann Erfahrung innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde machen. Und die können diesen Raum dehnen, in dem Moment, sofort. Wenn das ein Verständnis von Meditation ist, hab ich das. Gleichzeitig bin ich viel zu unruhig, als dass ich mich eine Stunde in die Ecke setzen und meditieren könnte. Die Frage, was ist denn das eigentlich, was mache ich denn da eigentlich? So hab ich es mal gelesen in einem japanischen Kôan, wo der Schüler den Meister gefragt hat, „Was ist das eigentlich, Meditation?“, und da sagt der Meister nichts mehr als: „Die Lücke zwischen zwei Gedanken“. Damit konnte ich was anfangen, weil dieser Moment etwas mit mir zu tun hat: mit mir einig zu sein. Vielleicht ist es auch eine Sehnsucht, eben immer wieder diesen „touch down“ zwischen dem Außen, diesem Ziel und dem Inneren, diesem Dasein zu koppeln und in dem Moment diese „Lücke zwischen den Gedanken“, diese Leere und dieses einfache nur „Sein“, darin zu reduzieren. Das interessiert mich und das verspüre ich vor allem immer wieder in der Begegnung dieser Denkansätze.
Und so ist auch der Titel „Kopf oder Zahl“ zu sehen. Letzten Endes das Ableben von „Mensch“, hier
noch rudimentär als Kopf in diesen dunklen Raum gegeben, hier der helle Raum, der zählbaren Realität – hic et nunc, hier und jetzt – es bleibt das oder das, es bleibt eigentlich nichts dazwischen. Und diesen Moment von zeitlicher Bedingung, von dem, was da offen bleibt, zwischen eben dem „entweder-oder“, das ist eigentlich das Spannungsfeld, was mich immer wieder herausfordert. Wird das deutlich?
RuS: Du siehst das Bild „Kopf oder Zahl“ also sehr programmatisch.
JS: Ja, programmatisch jetzt im Kontext auch für einen Zyklus von Ausstellungen, die ich jetzt plane mit Beginn im Kunstverein Gütersloh …
Ich versuche verschiedene Themenräume zu schaffen, wo ich aus verschiedenen Seiten diesen Gedanken ansetzte.
Der Titel „Brief“ steht dafür, aber auch die „rolling paper brands“, oder „LOL“. Diese Serien stehen für meine aufgeschriebene Kommunikation. Also ich leiste mir … (das hat auch was mit meinen örtlichen Bewegungen zu tun, zur Hochschule, nach Berlin, nach Mülheim und den Reisen) … Zwischenräume.
Es gibt also auch in der Ausstellung in Gütersloh Räume mit sehr vielen Zeichnungen/Skizzen, die gar nicht mal den Anspruch haben fertig zu sein, sondern Dokumente des momentanen örtlichen Belegs, fast wie eine Quittung oder eben ein kleiner Brief oder eine Notiz, die ich aber auch zeige und eine
Dimension von Unfertigem schaffe. Sie sind Teile dieses Prozesses, bis hin zu diesen Postulaten und Aktionsfeldern, teilbesetzt oder nicht fest.
RuS: Heißt das, dass die Briefe, die kleinformatigen Arbeiten, wie Realien sind für die Bewegung, die du machst und machen musst? Denn du hast Koordinaten aufgebaut: die Hochschule, andere künstlerische Tätigkeiten, Atelier hier, Atelier dort, das sind alles Bewegungen, die nötig sind, Alltag und Erfordernis. Du sagst, die Briefe sind fast wie Quittungen, gewissermaßen Realien dieser Bewegung und so, wie es hier hängt im Kunstverein Rotenburg, angeordnet und gereiht um dieses Hauptwerk herum: „Kopf oder Zahl“. Obwohl du bislang innere Spannungsbögen beschrieben hast, Entscheidungsnotwendigkeiten, entweder-oder, das ist gewissermaßen deine Kontemplation, hier das große Bild und das Andere, das sind diese Realien. Wie ist denn da das Verhältnis? Du hast ja dein Leben so organisiert, dass du viel unterwegs bist. Das müsste eigentlich gar nicht sein. Es wäre jetzt die Frage, ob diese Bewegung, diese Realbewegung doch tatsächlich so etwas stützt? Diese andere Arbeit, von der du sagst, du bist nicht derjenige, der sich hinsetzt und zwei Stunden lang als kleiner Buddha alles um sich herum vergisst. Du bist ja ein feinnervös-sinnlicher Mensch. Ich könnte jetzt vermuten, dass du nur zu dieser Kontemplation kommst, wenn du das andere tatsächlich auch hast und aufsaugst und dich dabei gewissermaßen verausgabst. Es sind zwei Pole, die aufeinander treffen. Man stellt fest, du bist sehr in unserer Kultur verankert: Mobilität, die Nervosität, der Ortswechsel, dem jeweils auch andere, sagen wir mal, Arbeitsfolien hinterlegt sind, die sich gegenseitig stützen, befruchten, wo man immer danach sucht, ja, Mensch, hoffentlich kriegt er was raus, das er woanders wieder anwenden kann. Die Dynamik dieses Lebens ist genau so, wie es hier angeordnet ist. Sie ist ja auch Teil deiner Arbeit an der Kontemplation, die sehr spannungsreich ist, wenn man so will.
JS: Ja, so ist es. Ja, so kann man es auch sehen.
RuS: Was hat es für einen Wert? Du hast das sehr ausführlich beschrieben, diese Ausdehnung …
JS: Dehnung … Wenn ich jetzt spontan antworte: gleich Streuung. Streuen, verstreuen oder rausgeben, also es ist auch ein kommunikativer Wert. Es ist auch die Sucht nach Begegnung.
RuS: Ein kommunikativer Akt.
JS: Ein kommunikativer Akt, der ist auch, ich sag mal, fast unerschöpflich. Ich ermüde mich auch nicht darin, 10 bis 12 Stunden Lehre und fahr noch beglückt dann wieder weg. Das nährt mich.
Und das ist ein Streuen oder Verstreuen unter der Dehnung.
RuS: Das sieht man in der Gegenüberstellung dieser beiden Bilder hier in Rotenburg. Das programmatische Bild „Kopf oder Zahl“ – zukunftsweisend, an dem du weiter arbeiten willst – und genau gegenüber hängt dieses „Projektil“, dieser „Blattschuss“, der Luftverdrängung zeigt, Zielgerichtetheit, etwas Durchdringendes, eine Zuspitzung von Linearität. Linearität unserer Moderne, Bewegung von A nach B, möglichst schnell. Das hast du gerade beschrieben. Und diese beiden Bilder hängen gegenüber, das ist die große Spannung, die momentan deine Bildwelt beherrscht. Ich weiß nicht, ob das bewusst war bei deiner Hängung.
JS: Nein, du machst jetzt was bewusst.
RuS: Das sind ja die zwei Seiten, von denen wir sprechen. Du lebst auch vom Verzehr von Energie. Du bist unterwegs, du hast das Ziel: Ich will nach 12 Stunden Lehre noch nach Berlin fahren, und das hängt hier plötzlich so gegenüber.
JS: Da brauch ich gar nichts mehr hinzufügen.
RuS: Die Briefe, wenn ich das so interpretieren darf, sind der Träger, vielleicht nicht ganz bewusst, einer irgendwie poetischen Haltung, die das beides registriert, beides wahrnimmt, aber auch …
JS: … Zwischenbilder dazu sind …
RuS: … Botschafter …
JS: … das ist es: die Botschafter. Und so gibt es auch noch eine ganze Reihe Tuschzeichnungen, auch
in Gütersloh. Es wird Räume geben, die nur diese Bereiche abgreifen. Die man als intime Räume begreifen kann und die auch thematisch sind. Da gibt es dann noch Botschaften, die aus verschiedenen Themen kommen. Das sind nun die Zwischenräume.
RuS: Davon gibt es noch mehr?
JS: Es gibt jetzt davon noch eine 4. Fassung. Und dann gibt es mehr Papierarbeiten, die aber ähnlich fungieren wie diese vier Briefe.
Diese Mittelformate, das kennst du auch, die gibt es immer wieder – wie „Flimmerhärchen“, jetzt die „Briefe“ oder die Serie „so what“, oder „pool“. Das sind diese, das wird vielleicht gerade dadurch noch mal deutlich, diese Zwischenbilder.
RuS: Lass uns noch mal auf einen Punkt kommen. Es gibt Betrachter dieser Bilder, wir sind jetzt gerade die Betrachter, auch in den Ausstellungen, die noch geplant sind. Was soll denn ein Betrachter wirklich sehen können? Ist der Anspruch dieser Spannung tatsächlich, dass man sie erkennen können muss? Muss man sich darin verwickeln, oder ist das etwas, was auch auf einer anderen Oberfläche eine Wirkung entfalten soll? Die Bildsprache an sich, die Formate, wie sie zugeordnet sind – hast du den hohen Anspruch, dass man die Antriebsmomente spürt?
JS: Du fragst nach der Botschaft, was da nach außen wirkt?
RuS: Ja.
JS: Das kann ich gar nicht ermessen.
RuS: Du denkst nicht soviel drüber nach?
JS: Da denke ich nicht soviel drüber nach. Mir ist es viel wichtiger erst diese Forschung zu betreiben, über die wir gerade gesprochen haben. Und in dieser Forschung diesen Raum weiter anzureichern mit Erfahrungen, mit bildnerischen Erfahrungen. Ich denke der Künstler ist oft Stellvertreter für die Emotionen, für das Sichtbare der Menschen, und jeder hat einen gewissen Ausschnitt, den er bedient und da gibt es Andockmechanismen für die unterschiedlichen Befindlichkeiten, wo es Menschen gibt, die das eine sehen und andere, die rezipieren andere Bereiche. Grosse künstlerische Erfindungen sind vielleicht die Summe der Verständigungen unter den Teilaspekten, common senses, kollektive Bewußtseinstufen, Traumbilder. Wir sprachen am Anfang über dieses expressionistische Schichten und dies Abkratzen und so – siehe die informelle Arbeiten. Und ich denke dafür gibt es auch einen Raum oder Räume von Menschen, die sich da verorten. Wenige Sammler oder Galeristen begleiten einen durch die verschiedenen Ebenen (Das sind aber die Spannenden, … by the way). Und das ist gar nicht zu besetzten oder danach zu schauen. Das kommt dann „zu“, das fällt einem „zu“.
RuS: Nicht beabsichtigt.
JS: Da ist keine Absicht und da lässt sich auch nichts beabsichtigen. Das wäre auch störend für diese Gedanken, die wir hier gerade diskutieren. Ich agiere sicher im Raum, so dass ich Dinge aufzeige, genauso wie ich es hier tue, also ich konfrontiere den Betrachter mit Ebenen, die ich schon auch dynamisiere, komprimiere, oder destilliere. Gerade in Gütersloh werden es 11 Räume, das werden Räume sein, die eine Atmosphäre schaffen, so wie ich hier auch eine Atmosphäre schaffe. Wenn das auf so einer Metaebene gelingt, dass man in dem Raum steht und ins Staunen gerät oder die Menschen sagen, es entwickelt sich eine „Musikalität“ oder so was, dann reicht mir das, ohne in diese gedankliche Tiefe zu gehen, die wir gerade angesprochen haben, nur dass eine Atmosphäre, ein Klang entsteht.
Insofern bin ich dann noch „Maler“, ich schmecke Farben ab, ich schmecke Dimensionen ab, frage, wie verträgt sie sich, wie schwingt sie im Raum usw … Und diese Belastungen oder Belastungsgrenzen, die versuche ich atmosphärisch auszureizen, um diese Dehnung zu übersetzten und zu verdichten.
RuS: Das ist ein wichtiges Stichwort, glaube ich, Übersetzung. Wenn ich es richtig verstehe, dann ist die Situation die folgende: dass du einerseits die innere Auseinandersetzung führst, wie wir sie besprochen haben, auf der anderen Seite siehst du natürlich nicht den einzelnen Betrachter. Du siehst ihn im Rahmen einer Ausstellung, im Rahmen von komponierten Räumen, du hast den Begriff der Musikalität gerade genannt, der ist recht entscheidend. Diese andere Ebene der Komposition und Zusammenstellung und des Atmosphäre-Schaffens, die, so höre ich es raus, spielt im Bildprozess eine wichtige Rolle. Das heißt, es ist nicht nur deine eigene Auseinandersetzung, sondern durchaus auch die des Malers mit dem „Klang der Farbe“ und mit der Komposition der Formate, wie sie zueinander stehen. Vorhin haben wir darüber gesprochen, du hängst Bilder oft sehr hoch, was sehr ungewöhnlich für Ausstellungs-installationen ist, so dass man eigentlich richtig hoch blicken muss. Diese äußere Seite spielt schon eine Rolle, bezogen auf, sagen wir mal, die Gesamtsituation, wie das präsentiert wird. Im Sinne eines Angebots von Musikalität, von Komposition und von Klängen, Farbklängen. Insofern würde ich noch mal zum Schluss darauf zurück kommen: das Pastellene, was im Moment überwiegt in deinen Bildwelten, was bedeutet es als Farbe? Welche Atmosphäre entsteht für dich? Welcher Ausdruck generiert sich
dadurch?
JS: Vielleicht dann auch ganz einfach wieder der Körper – das Sinnliche, das Fleisch, die Haut.

 

Der Gesprächspartner von Jochen Stenschke:
Prof. Dr. Ralf Rummel-Suhrcke, Jg. 1963, Studium der Kunst- und Kulturwissenschaft und Soziologie
in Göttingen, Bremen und Birmingham/England, lehrt seit 2009 an der HKS Ottersberg Kunst- und Kultursoziologie.